Es war einmal ein kleines Engelchen. Tag für Tag lag es auf seiner Lieblingswolke und schaute hinab auf das bunte Treiben von Mutter Erde. Das kleine Engelchen wünschte sich nichts sehnlicher, als auch einmal Teil dieses Wuselns zu sein.
Da geschah es eines Tages, dass es sich in seiner Neugier zu weit hinausbeugte, den Halt verlor, und fiel. Es stürzte hinab, geradewegs Mutter Erde entgegen.
Doch noch bevor es Zeit hatte, seine Flügelchen zu öffnen, geriet es in einen mächtigen Sturm hinein. Es war der Sturm des Lebens selbst, der es erfasst hatte und umherwirbelte. Dabei verlor das entsetzte Engelchen einen Teil seines rechten Flügelchens.
Doch irgendwie gelang es ihm, diesem Sturm zu entkommen, und wurde als kleines Engelbaby direkt in hinein in die Arme seiner Erdenmutter geboren. Gerade erst Angst und Schrecken entflohen, war es also angekommen in der von ihm so heiß ersehnten, bunten Welt.
Weil aber Engelflügel in der Erdenwelt nicht sichtbar sind, wusste niemand um sein Geheimnis.
So wuchs das kleine Engelchen heran. Still und in sich gekehrt war es. Viele Tränen waren in ihm zu hause. Es gelang ihm nicht wirklich Fuß zu fassen. Die haltgebenden, nährenden Wurzeln fehlten und an seinem halbverlorenen, verletzen Flügelchen trug es schwer.
Die anderen Kinder in dieser Welt waren ganz anders als das Engelchen. Sie konnten dieses zarte, stille Wesen nicht verstehen und begannen es zu ärgern und auszugrenzen. So kam es, dass das kleine Engelchen bald nicht mehr in die Erdenschule gehen wollte. Es wurde krank. Denn es hatte an diesem Leben schwer zu verdauen.
Sehnsüchtig blickte es Tag für Tag hinauf zu seiner Wolke und wurde immer trauriger. Die ungeweinten Tränen in ihm wuchsen heran zu einem großen Tränenmeer. Das kleine Engelchen begann zu verschwinden und wurde immer durchsichtiger.
Da nahm es seine Erdenmutter eines Tages mit zu einer weisen Frau. Diese schaute hinein in die Tränen des Engelchens und in diesen Tränen sah sie sein halbverlorenes, verletztes Flügelchen.
Sie wies es an, hinaus zu gehen, und nach einer großen Pflanze mit vielen weißen Blütendolden Ausschau zu halten. Das Engelchen wollte nicht, doch die Frau sagte ihm, dass es Zeit wäre, zu lernen zu vertrauen. Unsicher und traurig machte sich das Engelchen auf den Weg. Es fühlte sich einsam und wusste gar nicht so recht, wohin es gehen sollte. Es lief und lief. Tränen erfüllten seine Augen, machten es beinahe blind für den Weg.
Und plötzlich war sie da, eine große mächtige Pflanze mit weißen Dolden. Das Engelchen konnte sie mehr spüren, als sehen. Es ging eine Kraft von ihr aus, der sie sich nicht entziehen konnte. Zaghaft näherte es sich der Pflanze und berührte sie sanft. Und wie es sie gerade streicheln wollte, fiel eines seiner Tränen mitten hinein in eine Blütendolde.
Da war es dem Engelchen, als ob die Pflanze zu ihm spräche. Es war etwas an ihr, das sich so vertraut anfühlte. Es spürte, dass diese Pflanze in der Lage war, ihm mitten hineinzuschauen in sein unendlich trauriges Herzchen. Es gab keinen auch noch so kleinen Winkel, der ihr verborgen blieb.
Das kleine Engelchen konnte sein angestautes Tränenmeer nicht mehr zurückhalten und weinte und weinte. Die mächtige Pflanze ließ es gewähren, bis die Tränen versiegten, und die Stille des Friedens im Engelherzchen einkehrten.
Da merkte es, dass ihm ein neues, heiles Flügelchen geschenkt worden war.
Und in seinem Herzchen waren plötzlich Wärme und Licht, wo zuvor Kälte und Dunkelheit ihren Platz gehabt hatten. Die gütige Pflanze erklärte dem kleinen Engelchen, dass es nun Zeit wäre zurückzukehren zu der Frau, die es auf diesen Weg geschickt hatte.
Es tat, wie ihm geheißen. Die weise Frau schaute ihm in die Augen und wusste, es war getan. Sie erzählte dem Engelchen, dass es der Engelwurz begegnet war. Einem mächtigen Schutzengel, der sich vor langer Zeit dazu entschlossen hatte, in Pflanzengestalt hinabzusteigen zu Mutter Erde, um die vielen gebrochenen Engelflügelchen und Engelherzen zu heilen.
Ein Fläschchen, das die große Heilkraft dieser Pflanze in sich trug, gab sie ihm mit auf seinen Weg nachhause.
Die Wurzelkraft der Pflanze half dem Engelchen schnell seine Wurzeln wachsen zu lassen und gab ihm die Fähigkeit, das Leben endlich zu verdauen.
Und noch immer schaut das Engelchen an manchen Tagen sehnsüchtig hinauf zu seiner Wolke. Doch wer genau hinschaut, der sieht das verträumte Lächeln, das dabei seine Lippen umspielt. Und wer in der Lage ist, noch genauer hinzuschauen, der sieht das Lachen der Wolke.
© Copyright November 2017 Martina Petermann
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