Auf der Suche

Es war einmal ein kleines, kleines Mädchen. Und dieses kleine, kleine Mädchen wollte einfach nur sein. Es wollte wissen, wie es ist, einfach nur sein zu dürfen. Es wollte erfahren, wie es ist, einfach nur sein zu dürfen. Es wollte erleben, wie es ist, einfach nur sein zu dürfen.
Und es wollte den Himmel sehen. Es wollte den Himmel sehen, wie es ihn noch niemals zuvor gesehen hatte. Es wollte sehen, was hinter den Wolken ist. Es wollte sehen, was hinter den Sternen ist. Und es wollte sehen, was hinter der Sonne und was hinter dem Mond ist.
Aber weil man das nicht tun kann, wenn man in einem Zuhause sitzt, umgeben von Mauern und Dächern, die den Blick nach außen, nach oben so sehr begrenzen, beschloss das kleine, kleine Mädchen eines Tages dieses Zuhause zu verlassen und sich auf einen Weg zu begeben, von dem es niemals wusste, wohin er führen würde. So also zog es los im Schein der leuchtenden und wärmenden Strahlen der Sonne.
Doch schon bald kam es, dass hin und wieder Wolken heraufzogen. Diese begannen das kraftvolle Licht der Sonne am Tag und das sanfte Licht des Mondes in der Nacht zu verdecken. In diesen Momenten begann das kleine Mädchen sich einsam und alleine zu fühlen …..

Jedoch der Wunsch nach Freiheit, nach einer Freiheit, wie es sie noch nie gekannt hatte, war so groß, dass das kleine, kleine Mädchen auf seinem Weg weiterging.
Es kamen die Tage an denen mehr und mehr dunkle, schwere Wolken heraufzogen und den Himmel immer häufiger verdüsterten. Die Sonne erhellte und wärmte die Tage nicht mehr und der Mond erleuchtete nicht mehr die Nächte.
Und so geschah es, dass das kleine, kleine Mädchen von urgewaltigen Armen hineingesogen wurde in die Wogen eines unendlich wilden Weltenmeeres. Unbändige Wellen türmten sich auf, schlugen über ihm zusammen und schleuderten es bald hierhin, bald dorthin. Hilflos trieb das kleine, kleine Mädchen umher erkennend, dass es jeglichen Halt verloren hatte, dass ihm jeglicher Boden unter den Füßen genommen war …..

Da erspürte das kleine, kleine Mädchen die grenzenlose Wildheit eines tobenden Meeres. Gnadenlos peitschten die Wellen auf es ein. Bald war es oben und bald war es unten.
So wurde aus dem kleinen, kleinen Mädchen, das einst im lichten Schein der Sonne mutig hinausgezogen war in die Welt, ein hilfloses, ängstliches, zitterndes Bündel Mensch.
Es sah, spürte und fühlte nur noch Dunkelheit und Nacht.
Da begann das kleine Mädchen so sehr das Licht zu vermissen. Das Licht, wo war das Licht? Wo war das Licht, das es einst gekannt hatte? Es vermisste so sehr die Wärme und Geborgenheit seines Zuhauses, das es hinter sich gelassen hatte. Die Sehnsucht nach diesem Zuhause war unendlich groß und es begann bitter zu bereuen. Ja, bitterlich bereute es, was es getan hatte.
Warum nur hatte es dieses wunderbare Zuhause verlassen? Warum nur hatte es sich auf diesen Weg begeben? Warum nur hatte es nicht zufrieden sein können? Warum war es so dumm gewesen …..

Warum? Warum? Warum?

Urgewaltige Wellen dieses endlosen „Warum“ peitschten auf das kleine, kleine Mädchen ein, schleuderten es umher, wie ein totes Stück Holz eines verdorrten Baumes …..

Warum? Warum? Warum?
Warum hatte es all dies getan?

Das kleine, kleine Mädchen fühlte sich so unendlich verloren in den Wellen dieses wild gewordenen Meeres dieses ungnädigen „Warum“! Jeder noch so kleine Wassertropfen schleuderte ihm gnadenlos und unaufhörlich sein strafendes „Warum?“ entgegen. Das ganze Meer schien nur noch aus dem einen Schrei, der einen Frage, dem einen Vorwurf zu bestehen:

„Warum bist du diesen Weg gegangen?“

 

da erwuchs ganz langsam in all diesem erbarmungslosen Schreien des „Warum“ eine neue Kraft. In all dem erwuchs eine Kraft, die es dem kleinen, kleinen Mädchen immer wieder einmal, wenn auch nur für winzig kleine Augenblicke erlaubte, mit den Blicken seiner braunen Augen ein klitzekleines Stück blauen Himmels zu erhaschen.
Und je öfter ihm dies gelang, desto größer wurde sein Wunsch zu fliegen.
Wie wunderbar wäre es, doch einfach fliegend den klammernden Armen dieses tosenden Weltenmeeres entsteigen zu können, um hoch hinauf den unendlichen blauen Weiten des Himmels entgegen zu schweben …..

So kam der Tag, an dem sich das kleine, kleine Mädchen an etwas erinnerte.
Es erinnerte sich an Gott. Da gibt es doch einen Gott. Aber wo war Gott? Wo war Gott in all dem was ihm widerfahren war und ihm jetzt in diesem Augenblick widerfuhr? Wo war Gott …..

Und es begann nach Gott zu suchen

Es suchte nach Gott im Oben und im Unten, im Innen und im Außen, im Vorne und im Hinten, im Links und im Rechts, im Licht und im Schatten.
Und Gott? Was machte Gott?
Gott hatte das kleine Mädchen niemals vergessen gehabt. Gott hatte niemals seinen Blick von ihm abgewandt gehabt. Gott war immer und überall an seiner Seite gewesen. Das kleine Mädchen hatte es nur vergessen gehabt. Und so hatte Gott geduldig gewartet, bis es sich seiner wieder erinnern würde.
Und es kam der Tag an dem er ihm einen weisen Hund an seine Seite schickte …..

Das kleine, kleine Mädchen verstand und verstand wiederum nicht. Und so kam es, dass es eine Gefangene des unendlich tobenden Weltenmeeres blieb. Die Wellen spielten weiterhin ihr urgewaltiges Spiel und wirbelten es umher wie gefallene Blätter im Herbstwind.
Doch jetzt gab es einen, der immer wieder hartnäckig an seiner Seite auftauchte. Jetzt gab es einen, der sich nicht mehr so einfach abdrängen ließ. Jetzt gab es einen, der dem kleinen, kleinen Mädchen half Vertrauen zu fassen, wo es eigentlich gar kein Vertrauen zu fassen gab. Jetzt gab es einen, der dem kleinen, kleinen Mädchen half Halt zu spüren, wo es eigentlich keinen Halt zu spüren gab.
Aus dem gewaltigen Urschrei des „Warum“ wurde ein „Was“.
Und aus den Wassertropfen des Weltenmeeres wurden unzählige stille, nie zuvor geweinte Tränen.
Diese flüsterten ihm zu …..

„Frage nicht nach dem Warum, denn im Warum bist du verloren. Frage nach dem Was, und du wirst die Antwort erhalten. Was also war es, das dich auf diese Reise geschickt hat?“

 

Je mehr das kleine, kleine Mädchen dem Flüstern dieser Tränen lauschte, desto klarer wurde ihm, dass es die Stimme seiner Seele war, die zu ihm sprach.
Und je mehr das kleine, kleine Mädchen in das Licht der glitzernden Tränen hineinsah, desto deutlicher konnte es das Gesicht seiner Seele erkennen …..

So also kam der Tag, an dem das kleine, kleine Mädchen bereit war, die Hand Gottes in all dem  wahrzunehmen, was geschehen war. Und es gelang ihm zusammen mit seinem Hund Stück für Stück den Weg zurück an Land zu finden. Es begann wieder festen Boden unter seinen Füßen zu spüren und es spürte noch etwas.
Es spürte eine tiefe, tiefe Liebe im Innersten seines Herzens. Es spürte und fühlte eine Liebe, wie es sie noch niemals zuvor gespürt und gefühlt hatte. Es spürte die tiefe und aufrichtige Seelenliebe zu sich selbst, es spürte und fühlte eine so tiefe Liebe zu seinem Hund und es spürte und fühlte die grenzenlose Liebe seines Hundes zu ihm.
Es spürte und fühlte eine grenzenlose Liebe zu Gott und es spürte und fühlte die unendliche allumfassende Liebe Gottes zu ihm.
Da wusste das kleine Mädchen, dass es im Licht, der Wärme und der Geborgenheit seines Zuhauses angekommen war. Es war angekommen in einem Zuhause unbegrenzt von Mauern und Dächern.
Und da verstand das kleine, kleine Mädchen, dass es erfahren hatte, was es hatte erfahren wollen. Es verstand, dass ihm gegeben worden war, was ihm zu geben war …..

Nur eines blieb ihm noch zu tun. Es bedankte sich bei Gott für all das, was ihm geschehen war, was ihm gerade geschah und was ihm jemals geschehen würde.
Und es bedankte sich bei Gott für all das was ihm gegeben war, was ihm gegeben ist und was ihm jemals gegeben sein würde.
So also kam es, dass das kleine, kleine Mädchen die letzten Reste an Dunkelheit, Nacht und Nebel hinter sich lassen konnte …..

Aus der dunklen Nacht, dem grauen Nebel war buntes Leben geworden …..

Wieder richtete es seinen Blick nach oben. Seine braunen Augen verbanden sich mit dem endlosen Blau des weiten Himmels wissend, alles, alles war und ist möglich.

Und endlich, endlich war das kleine, kleine Mädchen bereit zu fliegen………….

 © Martina Petermann
04. Dezember 2024

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